Atme dich frei

Wäre das Atmen eine Glaubens- oder Bekenntnisangelegenheit, so würde es an Dogmen über das Atmen nicht fehlen und Atemgemeinden wären wie ein dichtes Netz über die ganze Erde verbreitet. Da es sich aber dabei um eine wissenschaftliche und tatsächlich auszuübende Sache handelt, wenden sich nur die selbständigen Denker diesem für den wirklichen Fortschritt ausschlaggebenden Gegenstand zu und von diesen selbständigen Denkern gibt es noch sehr wenige. Die Statistiker haben berechnet, dass bei den Kulturvölkern nur 2 Prozent (Prozentangaben von 1934, ob sich da bis heute etwas wesentlich geändert hat?) der Menschen selbständige Denker sind, die einen wirklich freien, selbständigen Gedankenlauf haben. Die übrigen 98 Prozent sind des eigenen, selbständigen Denkens unfähig und stützen sich mit allen ihren Kenntnissen nur auf ihr Gedächtnis und selbst diese Kenntnisse sind nur oberflächlicher Art, entstammen nicht ihrem eigenen Forschen, sondern beruhen auf gesprochenen oder geschriebenen Mitteilungen anderer.

Diese 98 Prozent können nicht selbständig denken oder wagen es nicht und geben nur gleich einer Schallplatte das wieder, was ihrem Gedächtnis eingeprägt worden ist, gleichviel welche Fähigkeit sie besitzen, welchen Beruf sie haben oder welcher Beschäftigung sie nachgehen. Sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie ihren freien Willen und ihre freie Wahl, die ihr menschliches Erbgut sind, verloren haben.

Von diesen 98 Prozent erwachen nur sehr wenige zu der Erkenntnis, dass es ihrer unwürdig ist, sich gleich einer Schablone gebrauchen zu lassen. Diese wenigen fangen dann an, zu suchen, zu untersuchen, zu unterscheiden, zu vergleichen und sich in dieser und jener Beziehung ein eigenes Urteil zu bilden. Bleiben sie sich treu und halten sie fest an ihrem Ziel, dann müssen sie den üblichen Vergnügungen der Welt entsagen, außerordentlich große Opfer bringen, viele Erfahrungen sammeln, Kummer, Sorgen und Versuchungen in Kauf nehmen und harte Prüfungen bestehen. Dann aber gehen sie den Dingen immer weiter nach, in denen sie ihr Glück sehen, und erkennen, dass wahre, tiefe und nützliche Erkenntnis, im Alltag angebracht, viel wertvoller ist als alle aufgestapelten Schätze und Reichtümer dieser Welt, deren Besitz bei denen, die sie haben oder ererben bis zum Lebensabend eine Art Besessenheit auslöst und ihnen mehr schadet als nutzt, wie es schon der Heiland zum Ausdruck gebracht hat: „Du Narr, wessen wird es nun sein, was du angesammelt hast!“

Schließlich stoßen diese wenigen, die ihr Schicksal in die eigene Hand genommen haben, auf die Quelle, die sie in Wirklichkeit suchen, auf den Atem, der ihr Wissen vertieft und verinnerlicht, ihr Begriffsvermögen erweitert und die Erkenntnis der Wirklichkeit erwachen lässt. Sie begreifen es, dass die Atemkunde nicht nur ein wissenschaftliches Studium, sondern zugleich praktisches Üben verlangt. Die praktische Atemkunst setzt wie die Musik ein Talent und den Drang zur Verwirklichung voraus, der einem angeboren sein kann oder den man sich entwickeln muss, wenn man aus dem Talent Nutzen ziehen will.

Die Atemfähigkeit ist zwar allen Menschen angeboren, aber der Verwirklichungsdrang ist bei den meisten nicht geweckt. Sie wünschen sich wohl alles Mögliche und Unmögliche, scheuen aber die Mühe, die sie zur Verwirklichung aufbringen müssten, und sind zu träge oder zu taub, um dem Geistestrieb ihres Wesens und der leisen, sanften Stimme ihres Herzens zu folgen. Sie geben sich damit zufrieden, ihre Muskeln auszubilden, und haben kein Gefühl dafür, dass sie sich zu Sklaven der Umstände und Verhältnisse herabwürdigen, anstatt sie zu beherrschen und zu ihrem Fortschritt auszunutzen.

Die Statistiker haben die Bilanz aus ihren zahlenmäßigen Feststellungen gezogen und sind zu dem Ergebnis gelangt, dass von allen Altersstufen der Kulturmenschen 99 Prozent ihrer ungenügenden Atmung zum Opfer fallen, also sich aus Unwissenheit armselig durch das Dasein schleppen und mehr in der Vergangenheit oder Zukunft leben als in der Gegenwart, anstatt die Gegenwart mit beiden Händen zu ergreifen und sich frei zu machen von den Banden des Aberglaubens und des Hypnotismus.

Von Dr. O. Z. A. Hanish, deutsch von Dr. Otto Rauth, bearbeitet von Jens Trautwein.
Auszüge aus Offenbarungen 1934.
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